Fragen:
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Was sind die Vorteile eines Verhaltensmodells mit
dem Paniksituationen erforscht werden können?
-
Welche Probleme treten bei der Erstellung eines
solchen Modells auf?
V E
R K E H R
Doppelgänger auf der Flucht
Menschenmengen in Bewegung sind kaum berechenbar und oft
gefährlich. Forscher bauen deshalb Schiffe, Sportstadien
und Pilgerstätten im Computer nach - bevölkert von
Zehntausenden künstlicher Fußgänger, die im simulierten
Katastrophenfall um ihr Leben laufen.
Erste
Weltkonferenz der Fußgängerforscher, Universität
Duisburg: Gut hundert Teilnehmer warten morgens schon
fachsimpelnd vor dem Hörsaal. Allesamt Experten für die
Rätsel des Gehens. Nicht leicht, hier unbefangen
vorbeizuspazieren. Der eine wird insgeheim Schritte
zählen, der andere extrapoliert schon den Kurs zur
Eingangstür, und der Dritte berechnet die
Ablenkungskraft der Keksteller, die im Foyer verteilt
sind.
Diesem Fach entgeht niemand. Kaum steht der Mensch auf
den Beinen, ist er Gegenstand der Fußgängerforschung.
Dann fangen die Fragen an: Wo geht er hin und wo nicht?
Warum meidet er die Ladenpassage in bester Lage? Warum
bleibt er immer nur stehen, wo es eng ist, zum Beispiel
gleich hinter der Rolltreppe? Und sollte er mal auf
Kreuzfahrt gehen: Wo rennt er hin, wenn das Schiff einen
Eisberg gerammt hat?
Erste
Antworten auf diese Fragen trafen vorvergangene Woche in
Duisburg ein: Forscher an der Universität Strathclyde in
Glasgow arbeiten beispielsweise an einer Software zum
Schiffeversenken. Die Simulation namens Evi ermittelt,
wie schnell ein Havarist notfalls evakuiert werden kann.
Schiffsbauer können Computermodelle ihrer Kreuzfahrer
zur Probe bevölkern mit Tausenden künstlicher
Passagiere. Dann zetteln sie nach Belieben Verheerungen
an: ein Feuerchen hier, einen Wassereinbruch da oder
eine gewaltige Explosion im Maschinenraum, die das
Schiff entzweireißt.
Kalten Blicks sehen die Forscher nun am Bildschirm zu,
wie Männer, Frauen, Kinder zu den Rettungsbooten
streben. Und wie sie kehrtmachen, wenn man ihnen den
Fluchtweg abschneidet.
Es
geht zu wie im Katastrophenfilm. Sogar die Rauchschwaden
sind zu sehen, die den armen Tröpfen entgegenschlagen,
und das Schwappen der ansteigenden Wasserfluten im
Korridor.
Noch
ehe das Schiff gebaut ist, können seine Konstrukteure
jedes Szenario durchspielen, Engstellen und kritische
Passagen beäugen und stoppen, wer wie lange zum
Rettungsboot braucht.
Bislang war die Fußgängerforschung nicht bekannt für
mitreißende Simulationen. Sie erschöpfte sich im Messen:
Steigleistung auf Treppen, Schrittlänge nach
Altersgruppen oder Durchschnittstempo nach Großstädten
(hoch in Braunschweig, niedrig in Stuttgart). Dafür
brauchte es keine Weltkonferenzen.
Die
Lage änderte sich, als 1994 die Fähre "Estonia" in der
Ostsee versank und 852Menschen starben. Seither arbeitet
die zuständige International Maritime Organization an
einem Regelwerk, das festlegt, wie Schiffe für den
Notfall vorzusorgen haben.
Vorerst gilt als Faustregel: Binnen 60 Minuten sollten
alle Passagiere in den Rettungsbooten sitzen. Wie
schnell das wirklich geht, ist aber kaum zu berechnen.
Bisher behalfen sich die Experten meist mit
Flussmodellen aus der Hydraulik: Sie behandelten die
Passagiere als eine Art Pampe, die es aus dem Schiff zu
pumpen galt.
Im
wirklichen Unglücksfall folgt jeder Fußgänger seinem
Eigensinn. Die Leute hasten bei Alarm vielleicht erst in
die Kabine, um die Rettungsweste zu holen; sie suchen
ihre Kinder, rennen kopflos umher und verstopfen
Durchgänge. Wer das alles kalkulieren will, muss es im
Computer mit virtuellen Doppelgängern nachspielen.
"In
zehn Jahren werden solche Simulationen Pflicht sein",
weissagt der Duisburger Verkehrsforscher Michael
Schreckenberg, der die Konferenz ausgerichtet hat. "Die
Kreuzfahrtschiffe werden immer größer, die Stadien und
Flughäfen ebenfalls. Da brauchen wir genaue Planspiele
für den Notfall."
Schreckenberg gilt als Pionier der Verkehrssimulation
mit selbständigen Akteuren. Mit seinem Kollegen Kai
Nagel hat er einst im Computer eine simple Urwelt aus
Gitterzellen geschaffen, die von kleinen
Unterprogrammen, genannt Agenten, besiedelt ist. Jeder
Agent strebt in der Gitterwelt Geschäften nach, die ihm
nur ungefähr vorgegeben sind. Er hüpft von Zelle zu
Zelle im vorbestimmten Takt, weicht anderen Agenten aus
und entscheidet an Weggabelungen je nach Lage, wohin er
sich wendet. Ein Zufallsgenerator lässt ihn hier und da
etwas launisch erscheinen.
Solche Simulationen sind primitiv, aber praktisch: Sie
verkraften es auch, wenn man riesige Mengen von Agenten
aufeinander loslässt.
Der
Fußgängerforscher Hani Mahmassani baute in den USA ein
Computermodell der heiligen Stätten von Mekka und
stopfte 100 000 Agenten als künstliche Wallfahrer
hinein. Auf Knopfdruck drängeln sich diese nun wie gute
Moslems bis auf Steinwurfweite an die berühmten
Teufelssäulen heran, die jedermann nach altem Brauch
einmal steinigen sollte.
Mahmassani erprobt in seinem Modell verschiedene
Barrieren und Zugangsschleusen. Es gilt, das Geschehen
am Bildschirm so zu steuern, dass es glimpflich ausgeht.
Denn im wirklichen Leben kommen bei dem Ritual immer
wieder Menschen zu Tode; erst vor wenigen Wochen sind
dort im Gewoge 35 Pilger zerquetscht worden.
Noch
hat die Fußgängerforschung einen starken Hang zur
Katastrophe. Aber die ersten Pioniere erobern auch schon
den Alltag: Die Londoner Firma Space Syntax entwickelt
Agenten, die durch Kaufhausmodelle schweifen. Sie haben
die Einkaufszettel realer Kunden dabei, und sie rasten
nicht eher, bis sie alles abgeklappert haben.
Unterwegs lassen die künstlichen Kunden sich, falls
gewünscht, durchaus von attraktiven Verkaufsständen
ablenken. Allzu dichtes Gedränge ist ihnen allerdings
zuwider. Händler können daraus ersehen, wie sie ihre
Ware verteilen müssen, damit die Kundschaft an möglichst
vielen Kaufreizen vorbeischlendert.
Für
fast alle Simulationen gilt: Sind sie einmal da, wecken
sie in ihren Schöpfern den Tüfteltrieb. Gerade
Unglücksforscher lieben es, vorsorglich immer neue
Details einzubauen. Kein Mensch handelt wie der andere.
Folglich muss auch die Software Dünne und Dicke
unterscheiden, Alte und Junge. Es geht um Sehschärfe,
Reaktionszeit und Raumverdrängung. In Rechnung gestellt
wird auch eventuelle Kopflosigkeit vor dem Notausgang
sowie die Wirkung von Rauch und Giftgas in Abhängigkeit
vom Lungenvolumen.
Am
genauesten nimmt es der britische Evakuierungsfachmann
Ed Galea. Seine Simulation Exodus kam beim Umbau des
Düsseldorfer Flughafens nach dem Großbrand von 1996 zum
Einsatz. Galeas künstlichen Passagieren schwindet sogar
bei dichtem Rauch die Sicht: Sie tappen an der Wand
entlang, bis die Schwaden sich wieder lichten.
Diese
Detailwut ist manchen Kollegen ein Gräuel. Gelernte
Physiker wie Michael Schreckenberg oder der Dresdener
Verkehrsforscher Dirk Helbing halten es eher mit
einfachen Modellen, die leicht zu handhaben sind. Damit
hat die Fußgängerforschung, so jung sie ist, bereits
ihren ersten Methodenstreit. Die Frage ist: Wie viel
Eigenleben braucht ein guter Agent?
Helbing hält noch die simpelsten Agenten für übertrieben
komplex. Wieso sollten sie selbständig handeln können?
Blickt Helbing auf eine belebte Fußgängerzone, so sieht
er weder Eigensinn noch gar intelligentes Verhalten. Er
sieht: Strömungen, Rinnsale und an Engstellen
Pfropfenbildung. Nichts, was man nicht erklären könnte
mit dem Verhalten von Flüssigkeiten, Gasen und
Granulaten.
"Unsere Intelligenz", sagt Helbing, "brauchen wir nicht
fürs Herumlaufen." Mobile Menschenmengen sind für ihn
hinlänglich beschrieben als "aktive
Vielteilchensysteme".
In
Helbings Simulationen walten folglich nur Gleichungen
der Physik. Damit kann er in Korridoren durchaus
lebensechtes Gewimmel von Teilchen erzeugen, die in
Panik hinausdrängen. Und siehe da, es zeigt sich, dass
mehr Teilchen durch den Notausgang schlüpfen, wenn davor
in einigem Abstand eine Säule steht. Sie staut einen
Teil der Nachdrängenden zurück, lindert den Druck auf
die Engstelle, und die Fliehenden verkeilen sich nicht
so leicht.
Hier
die Physiker, dort die Ultrarealisten - "und dazwischen
eine tiefe Kluft", resümiert Fußgängerforscher
Schreckenberg. In Duisburg schieden die Fraktionen
unversöhnt. Schon darum muss es, wie die Konferenz am
Ende beschloss, in zwei Jahren eine Folgekonferenz
geben.
MANFRED DWORSCHAK
Quelle:
DER
SPIEGEL 16/2001 (25.4.2001) |